L. Dorian - Das Leben nach dem Tod

Started by Alaska, 02. Juli 2007, 20:53:58

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Alaska

((Erste Fassung, scheut nicht vor Kritik zurück... zwar wünscht sich keiner wirklich Kritik, aber nur so weiß ich was ich besser machen kann ~.^))

Vor seinen Augen bildete sein Blut eine langsam immer größer werdende Lache. Nach Atem ringend, wie ein Fisch auf dem Trockenen, lag er mit offenem Hals auf dem klammen, dreckigen Boden. Schon seltsam, wie schnell sich das Blatt im Leben wenden konnte. In dem einen Moment lag man mit einer wunderschönen Frau im Stroh, im nächsten wurde einem die Kehle aufgeschlitzt.
Sein letzter Gedanken galt ihr, bevor ihm schwarz vor Augen wurde und das Leben aus ihm rann. Mit leeren, weit offenen Augen, starrte er in den Nachthimmel, als könnte er einfach nicht fassen, was mit ihm geschehen war. Dies war das Ende für ihn, Lind war tot.

„Du musstest sicher große Schmerzen erleiden, mein junger Freund. Aber keine Sorge, das ist noch nicht dass Ende… es fängt erst an...“ Flüsternd sprach die hochgewachsene Gestalt zu dem leblosen Körper. Behutsam wurde der Leichnam aufgehoben und dann über die Schulter geworfen. Mit knirschenden Schritten entfernte sich der Leichensammler von dem Tatort, nur die im Mondlicht fast schwarz schimmernde Blutlache erinnerte noch an das hier Geschehene. Und bald würde auch die nur ein weiterer, dunkler Fleck auf den Straßen Baldurs Tors sein.

Da war nur Wärme und Zufriedenheit. Ein sanftes, allgegenwärtiges Licht hüllte ihn ein, das ihn alle negativen Empfindungen vergessen ließ. Er hatte ein anständiges Leben geführt und sich das hier verdient. Zwar hatte er eine falsche Entscheidung getroffen, die ihm schlussendlich das Leben kostete, aber das war nicht ihm anzulasten. Das Alles war hier ohnehin vollkommen nichtig. Nichts als Wärme und Wohlbefinden und... – Schmerzen!
Sein ganze Wahrnehmung, sein ganzes Sein war davon erfüllt. Jeder einzelne seiner Muskeln krampfte sich ruckartig zusammen, als wolle er aufs brutalste in sein Bewusstsein gelangen. Er spürte jedes noch so winzige Stück Haut mit qualvoller Intensität, jede Pore und jedes Haar. Seine Augen pochten in den Höhlen, als er sie aufriss wurde seine Sicht von schmerzvoll stechend hellem Licht überschwemmt. Etwas surrte neben seinem Ohr, so laut, dass er glaubte seine Schädeldecke würde davon wie eine Glocke schwingen und seinen Kopf zerplatzen lassen. Er schmeckte die abgestandene Luft und den widerlichen Geschmack jedes einzelnen übelkeitserregenden Staubkorns, das er einatmete. Er roch Schweiß, derart intensiv, als würde man ihn darin ertränken.
All diese Empfindungen, die ungefiltert auf ihn einprasselten, drohten ihn innerlich zu zerreißen, seinen Verstand in tausend Stücke zu zerfetzen. Sein Mund öffnete sich zu einem lang gezogen Schrei, aber alles was rauskam, war ein ersticktes Husten, das unerträgliche Wellen von Schmerzen durch seinen Hals jagte.
Und dann war da Nichts. Wohltuendes erlösendes Nichts...

Jemand klopfte ihm gegen die Wange, zu unsanft, um es als tätscheln zu bezeichnen. „Wach auf, mein junger Freund.“, drang eine Männerstimme mit schwachem Akzent von weit her zu ihm durch, wie auf den Grund eines Sees, und schwemmte sein Bewusstsein nach oben. Flatternd öffnete er die Augen, kniff sie wieder zu, öffnete sie langsam wieder.
„Ich dachte eben schon, ich hätt‘ dich wieder verloren. Willkommen zurück im Leben.“ Lind fühlte sich heftig verkatert und wie betäubt. Eine enorme Verbesserung, zu dem Alptraum zuvor. „Der Übergang kam für dich wahrscheinlich ein wenig zu plötzlich? Ja, das ist das Problem, wenn man nicht schnellstens wiederbelebt wird. Körper und Geist gewöhnen sich zu sehr an den Tod. Aber ich musste erstmal Kräfte sammeln, um dich zurückzuholen.“
„Wer…?“, krächzte jemand. Es dauerte einen Moment, bis Lind klar wurde, dass er selbst die Frage gestellt hatte. Schwerfällig hob er einen Arm, um seine Augen gegen das Licht abzuschirmen. Blinzend blickte er zu dem verwaschenen Schemen, der da zu ihm sprach. „Aleksander, ich bin Priester… Du wirst noch ein wenig Ruhe brauchen, um wieder klar zu werden, aber jetzt bist du über den Damm.“
Der Schemen verließ seine Seite und entfernte sich. „Ich schau später nochmal nach dir, ruh dich aus.“
Dann hörte er eine Tür zufallen und legte den Unterarm über die Augen. Nur eine leise surrende Fliege leistete ihm jetzt noch Gesellschaft, in normaler Lautstärke, trotzdem nerv tötend.

Lind verfiel in einen Dämmerzustand, er wandelte auf der Grenzen zwischen Wachzustand und Schlaf. Bilder der Tage vor seinem Tod geisterten durch seinen Verstand.
Immer pflichtbewusst ging er den Arbeiten bei der Familie von Greifenwald nach, Adelige, die Elite von Baldurs Tor. Lind Dorians eigene Familie gehörte zur Dienerschaft, und so musste er schon von Kindesbeinen an mithelfen. Einst gehörte seine Familie selbst einmal zum Adel, aber das ist so viele Generationen her, dass er und seine Eltern das schon längst nicht mehr erlebt hatten. Trotz ihrer Blutlinie waren sie jetzt nur noch Diener für andere, der „Familienfluch“ hatte sie ruiniert. Lind hatte nie rausgefunden, was damit eigentlich genau gemeint war, niemand wollte darüber reden. Er hatte also nicht unbedingt eine leichte Kindheit, aber auch keine schlechte. Und immerhin gab es auch einen Lichtblick in dem trostlosen, sich ewig wiederholenden Alltagstrott. Yasmin, die jüngste der drei Schwestern. Ihre atemberaubende Schönheit brachte ihn schier um den Verstand und immer wenn er mit ihr zusammen war, konnte er sein Glück einfach nicht fassen, dass sie einen einfachen Stallburschen wie ihn überhaupt bemerkt hatte, geschweige denn liebte. Das einzige was ihm zusetze, war dass es geheim bleiben musste. Eine Tochter von Adel mit Fußvolk wie ihm, was hätten da die Leute gesagt? Das hätten ihre Eltern niemals zugelassen. Aber dafür entschädigte ihn jedes Lächeln von ihr, jede geheime Nacht, die sie wie im Rausch zusammen verbrachten.
Es hätte ihm klar sein müssen, dass es nicht ewig gut gehen konnte. Aber Liebe wird macht nun mal blind. Als sie an diesem Tag zu ihm kam, bürstete er gerade die Pferde.
„Guten Abend, Milady... wünscht ihr einen Ausritt?“, fragte er höflichst, wie es von ihm gegenüber einer von Greifenwald erwartet wurde. Er konnte sich ja nicht sicher sein, ob sie allein war. Sie war es aber, wie er merkte, als sie die Stalltür hinter sich zu zog und ein verruchtes Lächeln aufsetzte, bereit dazu, etwas Verbotenes zu tun.
„An einen Ritt hatte ich in der Tat gedacht...“, wobei sie andeutungsvoll die Augenbrauen hochzog und ihn kokettierend anblickte. Lind schaute verlegen zur Seite und grinste wie ein Schuljunge. Es schien ihr immer wieder Freude zu bereiten, ihn verlegen zu machen.
Kichernd drängte sie ihn zurück, bis sie ihn rückwärts in einen Heuhaufen schubste und sich auf ihn schmiss. Unter heißen, lustvollen Küssen wälzten sich die beiden umher, bis er schließlich oben lag und sie nun seinerseits ins Heu drückte. Durch das wilde Liebesspiel war ihr Kleid schon etwas verrutscht und gewährte vielversprechenden Einblick, der ihn ermutigte, es mit geschickten Händen noch weiter zu öffnen. Genießend stöhnte sie unter seinen Berührungen auf, er wusste genau was ihr gefiel, er zerrte von den Erfahrungen unzähliger gemeinsamer Nächte.
Gerade als er ihren Hals mit seinen Lippen liebkoste und sich langsam nach unten arbeiten wollte, hörte er, wie die Stalltür sich öffnete. Er konnte nicht sofort sehen, wer dort reinkam, sie schon. Und dann begann alles schrecklich falsch zu laufen, wie ein Traum, der mit einem mal, ohne Vorwarnung, zum Alptraum wurde und ihn nicht erwachen ließ. Noch ehe er wusste, wie ihm geschieht, fing Yasmin unter ihm an zu schreien und zu strampeln, schlug nach ihm und stieß ihn von sich weg. Sie schluchzte und weinte völlig aufgelöst. Lind sah sie bloß verwirrt an und wandte dann den Blick zur Tür.
Ihr Vater thronte dort im Eingang, mit steinerner Miene und einem mehr als vernichtenden, hasserfüllten Blick. Hinter ihm postierte sich bereits ein Leibwächter, bereit auf den kleinsten Wink hin loszulegen, schon halb in Bewegung. Plötzlich wurde Lind mit erschlagender Klarheit bewusst, wie diese Situation für Außenstehende scheinen musste. Yasmin spielte ihre Rolle wirklich perfekt. Notdürftig zog sie das halbausgezogene Kleid, oder eher vom Leib gerissene, wie sie es wohl ausdrücken würde, richtig an, um ihre Blöße zu bedecken und eilte schutzsuchend zu ihrem Vater. Sie bekam nicht mal ein erklärendes Wort heraus, nur Tränen und Schluchzer, so aufgebracht war sie. Aber es war auch kein Wort nötig, die Situation war ja völlig klar.
Ein winziger, nüchterner Teil von Linds Verstand bewunderte in dem Moment ihre schauspielerischen Künste. Tränen derart auf Befehl anstellen zu können wie ein Springbrunnen, nur um nicht den Status als Papas unschuldiger Liebling zu verlieren.
„Bruno, du weißt was du zu tun hast.“ Die Stimme ihres Vaters war schneidend kalt, als er sich an seinen Leibwächter wandte. Das stämmige Muskelpaket nickte nur und stampfte auf Lind zu, der hektisch versuchte auf die Beine zu kommen.
„Wa-wartet! Das ist alles nicht so wie es aussieht! Ich kann das - “ Noch bevor er den Satz beenden konnte, wurde er am Kragen gepackt und spürte, wie eine Faust gegen sein Kinn donnerte. Dann wurde es schwarz um ihn, keine Chance für Erklärungen, Ausreden, Rettung. Bewusstlos sackte er zusammen. Bruno warf ihn sich mühelos über die breite Schulter und schritt davon. „Ich geh ihn entsorgen.“, brummte der Leibwächter noch, als er an ihrem Vater vorbei stapfte, der seine arme mitgenommene Tochter beruhigte, der beinahe die Unschuld geraubt worden wäre, die sie schon vor Jahren verloren hatte.
Lind kam erst wieder zu sich, als er unsanft auf den harten Steinboden geworfen wurde. Verwirrung und Desorientierung überfiel ihn, bevor ihm seine Lage wieder voll zu Bewusstsein kam. Aber da war es schon zu spät zum handeln. Sein Kopf wurde an den Haaren hochgerissen, er spürte den kalten Stahl an seiner Kehle und den stechenden Schmerz, als sie ihm mit einem präzisen Schnitt durchtrennt wurde. Vor seinen Augen bildete sein Blut eine langsam immer größer werdende Lache. Nach Atem ringend, wie ein Fisch auf dem trockenen, lag er mit offenem Hals auf dem klammen, dreckigen Boden einer Seitengasse, in einem Viertel, in dem eine Leiche mehr oder weniger auch niemanden scherte. Schon seltsam, wie schnell sich das Blatt im Leben wenden konnte.

Verschwitzt, mit einem ersticktem Keuchen fuhr Lind hoch, als er aus dem Traum erwachte, der ihn all das noch einmal erleben ließ. Automatisch fuhr seine Hand zu seinem Hals. Dort wo der Schnitt war ertastete er jetzt eine deutliche Narbe, frisches glattes Gewebe, als wäre die Wunde vor noch gar nicht allzu langer Zeit abgeheilt. Zwar schmerzte sein Hals immer noch, aber es hatte sich ein wenig gelegt. Auch sonst schien sich sein Zustand gebessert zu haben, auch wenn er sich immer noch wie durch den Fleischwolf gedreht fühlte.
Er fuhr mit den Händen durchs Gesicht und stöhnte frustriert, deprimiert, das konnte einfach nicht wahr sein. All die Jahre, die er mit ihr hatte, von ihr innerhalb eines Sekundenbruchteils weggeworfen und nichtig gemacht, zusammen mit seinem Leben.
Vorsichtig schwang er die Beine über den Bettrand. Er versuchte aufzustehen, fiel beim ersten Versuch aber wieder ins Bett zurück, als ihm das Blut in die Beine schoss und ihm schwindelte. Langsam dann, seinem Zustand angemessen, richtete er sich auf. Er blickte sich in dem rustikal eingerichteten Raum um. Ein Bett, daneben ein Stuhl über dem seine Sachen lagen, ein niedriger Schrank mit einer Waschschüssel darauf und darüber ein dreckiger Spiegel. In einer Ecke stand noch ein Tisch, mit einem weiteren Stuhl, das war es an Mobiliar, alles wirkte bereits leicht morsch. Dem Zimmer nach, war er wohl nicht gerade im besten Viertel von Baldurs Tor gelandet. Hier konnte wahrscheinlich jeder kommen und gehen, ohne dass es jemand bemerkte oder wer Fragen stellte. Zum Glück war er wohl an einen der wenigen geraten, die Fremde in Not halfen, und nicht einfach nur ihre Taschen plünderten.
Zögernd postierte er sich vor dem Spiegel. Vorsichtig, kaum die Haut berührend zog er mit dem Daumen die gut sichtbare Narbe nach. Sie war noch feuerrot, hatte noch nicht die weiße Blässe Jahre alter Narben. Es sah fast so aus, als wenn sein Hals immer noch offen war. Er sah seinen Kehlkopf darunter zucken, als er schwer schluckte. Sie hatte ihn nicht nur verraten, sondern auch für sein Leben gezeichnet. Es war fast schon ein grausamer Scherz, dass er nicht tot war. Weil wirklich am Leben war er auch nicht mehr, was blieb ihm denn noch? Eine Liebe, die nichts als Illusion war. Eine Familie, zu der er nicht zurückkonnte, die ihn wahrscheinlich verstoßen würde. Ein Ruf als perverser Triebtäter, sollte ihn jemand wiedererkennen.
„Idiot...“ Seine Stimme klang ungewohnt rau. Leise brachte er das Wort über die Lippen, während er sich selbst in die Augen blickte. Heißer Zorn und Wut staute sich in seinem Inneren auf, zitternd ballte er die Fäuste. Er war zornig, zornig auf sich, auf Yasmin, auf ihren Vater, auf die Welt.
Mit einem wütenden Aufschrei, schleuderte er die Faust in sein Gesicht, das in tausend Stücke zersplitterte. Die Spiegelscherben schnitten sich in seine Haut. Blut tropfte von seiner verletzten Hand. Das scharfe Pochen der Wunden machte ihn wieder klar, holte ihn wieder ins hier und jetzt zurück.
„Schmerzt es sehr?“ Lind hatte Aleksander nicht bemerkt und sah seinen Helfer in den Resten des Spiegels in der Zimmertür stehen. Ein hochgewachsener Mann, dichtes schwarzes Haar, ausdrucksstarke graue Augen, eine durch und durch charismatische Gestalt. Seine gesamte Körperhaltung zeugte, obwohl er kein Muskelprotz war, von einer nicht zu unterschätzenden Stärke.
Kein Sinn es zu leugnen. „Die Hand, mein Hals...“
„Dein Herz?“, vollendete er für Lind.
„Wenn ich’s kitschig ausdrücken wollte, ja...“ Er ging zum Stuhl mit seinen Sachen rüber, nur in Unterhosen wollte er nicht vor ihm stehen.
„Erzähl mir deine Geschichte. Was ist passiert?“
Lind wusste nicht warum, aber er erzählt ihm alles, die ganze Geschichte, während er im Zimmer auf und ab ging, die schmerzende Hand hielt und immer wieder Pausen machte, bei denen er sich an den Hals griff. Vom vielen Reden fühlte dieser sich an, als hätte er eine Metallfeile verschluckt, aber es musste raus. Vielleicht brauchte er die Bestätigung, dass es nicht seine Schuld war, dass er ungerecht behandelt wurde, sein Zorn gerechtfertigt war.
Lange Zeit schwieg Aleksander „... Es ist verständlich, dass du wütend bist. Aber du solltest Yasmin gleichzeitig auch dankbar sein.“
„Was?!“ Nach dieser Bemerkung hätte Aleksander Lind auch ins Gesicht schlagen können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
„Sie hat dir eine wichtige Lektion zuteil werden lassen. Sie hat dich Schmerz spüren lassen, wie ihn nur wenige kennen, hat dich sogar den Tod erleben lassen. Wir leben in einer Welt der Gegensätze, Licht und Schatten, Arm und Reich, Schmerz und Wohlbefinden. Du kannst das eine nicht ohne das andere schätzen lernen.“ Er trat an Lind heran, griff in eine Tasche an seinem Gürtel und zog eine Phiole raus. „Erst durch den Schmerz, den du erträgst, kannst du wahre Stärke erlangen. Ich kann dir deine körperlichen Schmerzen nehmen, wenn du willst. Ich könnte sogar diese hässliche Narbe für dich entfernen, die dich jedesmal, wenn du in den Spiegel schaust an Yasmin erinnern wird.“ Fast schon zaghaft zärtlich tastete Aleksander nach Linds Hals, strich über seine Narbe. Ruckartig zuckte Lind zurück, als er ihn berührte. „Dann kannst du weiterleben, als wäre nichts gewesen, kannst alle schlimmen Dinge ignorieren und daran zu Grunde gehen.“ Er hielt ihm die Phiole vor die Augen, wie den verbotenen Apfel.
„Oder... du lehnst das Angebot ab, lebst mit dem Schmerz, überwindest ihn um daran zu erstarken, über jene zu triumphieren, die dir das angetan haben. Bedenke, jedesmal wenn du es erträgst, um danach umso härter zurückschlagen, trägst du einen Sieg davon.“
Lind sah abwechselnd auf die Phiole und in Aleksanders Augen. „Ich hätte diese Frage schon früher stellen sollen... welcher Gottheit dienst du?“ Kranker Scheißkerl, wollte er eigentlich noch anfügen, aber war wohl doch zu gut erzogen, um dass seinem Lebensretter im Moment an den Kopf zu werfen.
Ein ruhiges Lächeln kam als Antwort. „Du denkst es dir sicher schon, deswegen lüge ich nicht. Ich diene der Maid der Schmerzen, Loviatar.“
„Großartig...“ Blitzschnell griff er mit der gesunden Hand die Phiole aus seinen Händen. „Was du da erzählst, ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört hab.“ Und dennoch zögerte er damit, den Heiltrank zu trinken.
Wieder dieses ruhige, fast schon überlegen wirkende Lächeln. „Ist es das? Oder sperrst du dich nur gegen die Wahrheit?“ Im schlendernden Gang wandte Aleksander sich um und verließ den Raum.
Verloren stand Lind mitten im Zimmer und starrte die Heiltrankphiole an. Er wusste, es war Schwachsinn. Aber die Worte brannten sich in sein Hirn. Würde er alle Schmerzen einfach beiseite wischen, was wäre da noch? Dumpfe Gleichgültigkeit?
Wieder verfiel er in das unruhige umher tigern, scheinbar eine halbe Ewigkeit dauerte es, bis er seine Gedanken genug geordnet hatte, um die nächsten Schritte zu unternehmen. Als allererstes musste er hier weg, dieser Kerl verpestete sonst noch seine Gedanken. Er ließ die Phiole in einer Hemdtasche verschwinden.

„Hallo? Ich verschwinde.“ Lind schaute sich in der kleinen Wohnung um, keine Spur von Aleksander. Er wollte schon zur Eingangstür hinaus, als ihn ein leises Geräusch innehalten ließ. Er lauschte in die Wohnung hinein und runzelte leicht die Stirn. Das klang wie... Stöhnen. Und es kam von – er blickte sich um – von dem Bücherregal, nein von dahinter.
Die Vernunft sagte ihm, wenn du in der Wohnung eines seltsamen Loviatarpriesters bist und eigenartiges Gestöhne hörst, geh dem nicht nach. Aber seine Neugier fragte ihn, was das wohl zu bedeuten hatte, und seine Neugier war drängender als die Vernunft.
Er tastete das Bücherregal an allen Seiten ab und wurde schnell fündig. Es ließ sich einfach bei Seite ziehen und schwang auf wie eine Tür. Dahinter versteckte sich eine weitere Tür, dunkles Holz, geheimnisvoll und unheilverkündend. Lind konnte einfach nicht anders als sie zu öffnen, er musste sehen was sich dahinter verbarg. Und der Anblick ließ ihm für einen Moment erstarren und das Blut in den Adern gefrieren.
Aleksander kniete im Zwielicht eines kargen Raumes. Kalte, nackte Wände waren gesäumt von Folterinstrumenten, von den meisten hatte Lind noch nie was gehört, geschweige denn sie schon mal gesehen. Er konnte sich nur unzureichend vorstellen, was man mit den einzelnen Werkzeugen wohl machte, und selbst das war ihm schon zu viel. Dazu kam noch, dass Aleksander auf dem Boden kniend vornüber hing, aufgehängt an einem Geflecht aus massiven Eisenketten, die mit Haken an Ringen in seinem Rücken befestigt waren. Die Haut um die dicken Ringe sah ungesund gerötet, entzündet und eitrig aus, der Zug an den Wundstellen musste höllisch schmerzen, aber es schien ihm nichts auszumachen. Eine einzelne Kerze kämpfte mit ihrer Flamme gegen die Dunkelheit an. Durch den Luftzug, als Lind eintrat, tanzte die Kerzenflamme wild hin und her und versetzte damit die Schatten auf Aleksanders verzerrten Gesichtszügen in einen wilden Reigen. Das Schattenspiel ließ sein Gesicht einer dämonischen Fratze ähneln, die gleichzeitig Schmerz, Glückseligkeit und eine beunruhigende Lust ausdrückte.
Geradezu andächtig hob Aleksander einen heiß glühenden Metallnagel aus der Kerzenflamme. Ungläubig beobachtet Lind, wie er das glühende Metallstück auf seine nackte Brust niedersenkt. Mit erschreckender Intensität musste er mit verfolgen, wie der Nagel langsam in die obersten Hautschichten sank und sie versengte. Ein übelkeitserregender Geruch verbrannten Fleisches stieg ihm in die Nase.
All die alten Narben, die bereits seinen Oberkörper zierten, sprachen eindeutig dafür, dass Aleksander dies nicht zum ersten Mal machte. Sie bildeten ein kompliziertes Muster, fast schon als Werk eines Künstlers anmutend, wie ein fein gewebter Wandteppich aus milchig weißen Brandnarben. Während er vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen musste, drang gleichzeitig ein ekstatisches Stöhnen aus  seinem Hals. Es schien endlos lange Zeit zu dauern, bis er Lind im Eingang bemerkte. Aber er machte keine Anstalten seine Neigung zu verbergen, panisch aufzuspringen, sich zu schämen. Er lächelte Lind nur an, ein raubtierhaftes Lächeln.
Das konnte kein normaler Mensch sein, er musste irgendwie in der Hölle gelandet sein, er war gar nicht wieder am Leben. Diese Gedanken schossen Lind durch den Kopf, Panik erfasste ihn. In seinem Geist spukten Bilder rum, Aleksander, der die lästige Hülle als Mensch abwarf und zum Dämon wurde. Die eiskalte Klaue der Angst hielt sein Herz fest in der Umklammerung und vor seinen Augen veränderte sich die Gestalt Aleksanders. Er wurde einem Dämon tatsächlich immer ähnlicher, die gespannte Haut am Rücken, die Ketten die an ihm zerrten wandelten sich zu knochigen Flügeln mit fauligen Fleischfetzen. Die Narben verfärbten sich dunkelrot, schienen zu pulsieren, als würde verdorbenes Blut durch sie laufen. Seine Hände wandelten sich zu Klauen und sein Gesicht war nicht mehr menschlich zu nennen, nur noch menschenähnlich.
Aleksander blickte auf seine Hände runter, an seinem Körper herab und über die Schulter. Sofern man seine Fratze noch lesen konnte, stand deutliche Überraschung in ihr geschrieben. Lind wollte schreien, aber sein Schrei wurde durch die Schmerzen im Hals jäh erstickt. Aber rennen konnte er noch, und das tat er. So schnell ihn die Beine trugen wetzte er zur Eingangstür, sprang dabei über Tisch und Stühle und schmiss sich regelrecht gegen die Tür.
Wie ein Verrückter wetzte er davon, von panischer Angst getrieben und achtete dabei nicht darauf, wen er anrempelte oder umstieß. Aleksander blieb allein zurück und sobald Lind geflohen war, verflüchtigte sich seine neue Gestalt. Seine geschulten Sinne spürten den Eingriff in das magische Gewebe, die schwache, aber wirkungsvolle Illusion, die eben erzeugt wurde. Er lachte schallend, als ihm klar wurde, was eben passiert war. Der Junge verfügte über Magie, roh und unkontrolliert. Damit könnte er so viel Schmerz und Leid erzeugen, er hatte wirklich das Potential zu einem Diener der Schmerzensmaid.

Er war verrückt geworden. Das war die einzig logische Erklärung, die Lind fand. Er hatte es zwar mit eigenen Augen gesehen, aber konnte es so einfach nicht glauben und akzeptieren. Ein kleiner Teil seines Verstandes war sicher, dass es einfach nicht real war.  Irgendwelche Spuren musste der Tod ja bei einem hinterlassen, außer dass man sich wie ausgekotzt fühlt. Vielleicht war es das beste, dass ganze einfach zu ignorieren und zu vergessen, sagte er sich selbst. Einer der Vorteile des menschlichen Verstandes ist seine Fähigkeit, bestimmte Erinnerungen, die einfach nicht ins persönliche Weltbild passen, sehr effektiv zu verdrängen. Leider klappte das nicht mit allen unangenehmen Erinnerungen.
Jetzt hatte er also auch noch den Verstand verloren. Sie hatte ihm wirklich alles genommen. Stundenlang wankte er jetzt schon ziellos durch die Straßen. Er rieb sich durchs Gesicht, versuchte sie aus dem Kopf zu bekommen, aber sie war wie ein Fluch, der ihn verfolgte. Er konnte einfach nicht vergessen. Alles um ihn herum erinnerte ihn an sie. Fast hätte er sogar geglaubt, sie in der Menge vor sich zu sehen…
Entgeistert starrte er Yasmin an, die dort über den Marktplatz schlenderte, als wäre überhaupt nichts gewesen, als hätte sie ihn nicht auf dem Gewissen. Lind legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen, nur ein weiteres Trugbild seines verwirrten Verstandes. Aber nein, sie blieb, sie musste real sein, hier und jetzt, so nah und immer näher. Ohne es richtig bemerkt zu haben, hatte er sich in Bewegung gesetzt, auf sie zu. Sie hatte ihn noch nicht gesehen, war viel zu beschäftigt damit das Gold ihres Vaters rauszuwerfen. Mit einem Mal stand er hinter ihr, atmet ihren Duft ein, den er so geliebt hatte, immer noch liebte. Wären nicht all die Leute um sie herum gewesen, hätte er mit dem Drang kämpfen müssen, ihr einfach die Hände um den zarten Hals zu legen und zuzudrücken.
„Yas…“, hauchte er ihr fast lautlos ins Ohr und zog rasch an ihr vorbei. Sie wurde schlagartig blass, als hätte sie einen Geist gesehen, ignorierte völlig die vollmundigen Lobpreisungen des Händlers, der gerade versuchte seine Ware an sie loszuwerden. Leicht verstohlen blickte sie sich um, bevor sie dem im Jenseits Geglaubten folgte.
Er musste sich nicht nach ihr umschauen, er wusste, dass sie ihm folgte. Er spürte geradezu die Hitze ihres Körpers im Nacken, das Feuer unzähliger gemeinsamer Nächte, das ihn jetzt schier zu versengen schien.
Langsam, gezwungen ruhig schritt Lind durch enger werdende Straßen und Gassen. Er kannte die Stadt wie seine Westentasche und wusste genau wo er sie hinführen musste. In einer Sackgasse machte er Halt und drehte sich zu ihr um. So verletzlich und scheu sah sie aus, wie ein junges Reh. Das ist nur Fassade! Er musste es sich selbst einhämmern, um seinen Beschützerinstinkt nicht aufkommen zu lassen und sie wie früher in den Arm zu nehmen. Nein, früher war vorbei.
„Lind, d-du lebst?“, fragte sie ungläubig.
Lind stieß ein leises angedeutetes Lachen aus und schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein… Lind ist tot.“
Sie blickte ihn kurz verwirrt an, versuchte dann aber sich nichts anmerken zu lassen. „Ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht…“
Ruhig lächelnd trat er auf sie zu, wog sie in Sicherheit, bevor die Falle zuschnappen würde. Sichtlich erleichtert, dass er wohl keinen Groll gegen sie hegte, entspannte sie sich und lächelte ihrerseits. Sie war wirklich eine verdammt gute Schauspielerin, er hätte es ihr fast abgekauft, dass sie sich freute ihn zu sehen.
In vertraulicher Geste legte er seine Stirn an ihre und legte eine Hand an ihren Hinterkopf. Beide blickten sich tief in die Augen. „…Weißt du eigentlich, was du mir angetan hast…?“
„Lind, es tut mir leid…“, sprach sie mit zitternder Stimme, als würde sie vor Scham und Schuldbewusstsein gleich in Tränen ausbrechen.
Zärtlich strich er ihr durchs Haar, über die Wange, ihre seidenweiche Haut, den Hals hinunter. Er beobachtete, wie sich ihre Pupillen vor Schreck weiteten, als seine Hand ihren Hals umschloss. Seine aufgesetzte Ruhe schlug in rachsüchtigen Zorn um. „Nochmal… Lind ist tot! Erinnerst du dich?! Er war ein Vergewaltiger!“ Mit forderndem Druck trieb er sie an eine Wand zurück und drückte sie dagegen.
Yasmin schüttelte den Kopf, eine Träne lief ihre Wange hinunter. Jedesmal wenn sie einen Versuch unternahm sich zu wehren, drückte er ihren Hals fester zu, und ließ danach wieder locker, er spielt mit seiner Beute.
„War er nicht? Nein stimmt… du hast ihn nur dazu gemacht! Als ob dir in deinem Elfenbeinturm schon jemals was Schlimmes passiert wäre…“ Wie im Fieber blicke er sie an, seine Nasenflügel bebten unter mühevoll gebändigter Wut. „Möchtest du wissen, wie es sich anfühlt vergewaltigt zu werden?!“
Mit einem zornigen Ruck riss er das Oberteil ihres Kleides offen. Schmerzhaft grob fasste er ihr an die Brust. Dabei nahm er den Blick nicht von ihren Augen, ein Hauch von Wahnsinn war tief in seinen zu lesen, während er ihren Hals diesmal so fest zudrückte, dass sie nicht mal schreien konnte, als er ihr Kleid weiter zerriss, ihr zwischen die Beine griff.
Dicht presste er sich an sie heran, spürte ihren Atem, ihr panisches Keuchen, wie sie sich wandte, um die bevorstehende Schändung zu verhindern. „Lind hätte sowas nie getan…“, hauchte er ihr zu. Dann ließ er locker, trat einen Schritt zurück und blickte sie mit bitterem Lächeln an, wie sie zerrissen und aufgelöst an der Wand stand. Diesmal war es echt, nicht nur gespielt. „Aber er schickt dir Grüße.“
Und er ließ seine Faust auf ihr Gesicht zurasen. Ihr Kopf donnerte gegen die Mauer und mit einem befriedigenden Knacken spürte er geradezu, wie ihr Nasenbein unter seinem Schlag zersplitterte. Blut sprudelte über ihr kaputtes Seidenkleid.
Sie sackte zusammen, rutschte an der Wand zu Boden, im ersten Moment viel zu benommen, um überhaupt zu reagieren. Zittrig griff sie an ihre Nase und blickte mit schreckgeweiteten Augen auf das Blut an ihren Händen. Lind blickte auf sie herab, mit einem tiefen Seufzer ging er vor ihr in die Hocke. Sie versuchte erfolglos sich nach hinten zu flüchten, aus Angst vor weiteren Repressalien, aber er machte nichts, er hielt ihr lediglich eine kleine Phiole vors Gesicht.
„Ein Heiltrank… trink, beende deine Schmerzen und leb, als wäre nichts passiert… Oder lass es, bereue und ich verzeihe dir…“
Sie griff ohne zu zögern nach der Phiole und stürzte den Inhalt hinunter. In dem Moment verstand Lind besser als zuvor, was Aleksander ihm gesagt hatte. Es war ihr egal, ob er ihr verzieh, er selbst war ihr egal. Yasmin war schwach, sie ertrug den Schmerz nicht, ignorierte ihn lieber, leugnete ihn. Lind lächelte wieder bitter. „Falsche Wahl…“
Was sie nicht bedacht hatte, man muss einen Knochen richten, bevor man ihn heilen lässt. „… jetzt wirst du niemandem mehr um den Finger wickeln.“ Die Erkenntnis, was er damit meinte, würde noch etwas auf sich warten lassen, er wandte sich ab und ließ sie damit allein.
Und während er sich immer weiter von dem Ort seiner Rache entfernte, brach ein immer lauter werdendes Lachen seinen Weg frei. Schallend, manisch, nicht mal die Schmerzen in seinem Hals konnten es unterdrücken. Er lachte, während er in irgendeiner Seitenstraße kraftlos auf die Knie sank, ohne auf seine Umgebung zu achten. Er lachte und… weinte. Schluchzte wie ein kleines Kind. Beides gleichzeitig. Er fühlte sich mehr denn je innerlich zweigespalten, zerrissen… und leer, er hatte gewonnen, über sie triumphiert und dabei so viel verloren…

Lind streunte durch die Straßen, wie ein herrenloser Kater, von einem Ort zum andern, rastlos, ruhelos. Alle Tavernen und Gasthäuser der Stadt klapperte er ab, jedenfalls jene, in die er reinkam. Tagelang ging es so, wie lang genau konnte er allerdings nicht sagen, Zeit wurde für ihn relativ. Als er in einer versifften Hafenkneipe saß, und die Antwort auf eine Frage, die er selbst nicht kannte, auf dem Grund seines Bierkrugs suchte, bekam er nebenbei das Gespräch von zwei alten Matrosen mit.
„Haste gehört, da soll sich so’ne Adelsschnegge umgebracht haben.“
„Sach bloß…“
„Jau, dralles, hübsches Ding, bis ihr irgend’n Schläger ‘s Gesicht zerdrückt hat.“
„Sachen gibt’s…“
„Jau, sah danach aus wie’n Straßenboxer, hat sie wohl nich‘ verkraftet. soll sich ‘nen Strick gedreht haben. Wie hieße nochmal… Grafendings, Greifendings…?“
„Greifenwald…“, kam es leise aus Linds Ecke.
„Jau, das war’s, Greifenwald… harr… früher war’s hier mal ‘ne anständige Stadt. Da bin’sch lieber aufm Meer, da passiert sowas nich‘.“
„Aye…“
Nachdem sie geräuschvoll ihre Krüge geleert hatten, wankten die beiden Männer mit dem typischen Gang von Seemännern an Land hinaus. Lind vergrub das Gesicht in den Händen. „Was hab ich getan…?“
„Das Richtige, mein junger Freund.“ Fast wäre Lind vor Schreck vom Hocker gefallen, als er die milde Stimme Aleksanders hörte, seine erste, instinktive Reaktion war Flucht, aber er riss sich mit Mühe zusammen. Das war alles nur Einbildung, der Kerl neben ihm war ein normaler Mensch. Sein Blick glitt zum Rücken von Aleksander, der sich gerade setzt. Unter dem Hemd zeichnete sich nichts ab. Keine Ringe, keine Flügel, vielleicht war es auch alles nur ein Alptraum gewesen, Lind war sich da inzwischen schon gar nicht mehr sicher.
„Ich hab sie umgebracht…“ Nachdem er es ausgesprochen hatte, bohrte sich die glühende Spitze der Schuld noch weiter in sein Herz.
„Sie hat sich selbst umgebracht, sie war schwach. Das hast du doch selbst bemerkt, oder?“
„… Ich schätze ja… trotzdem…“
„Es gibt kein Trotzdem, widersprach Aleksander ihm energisch. „Sie hat bekommen, was sie verdient hat. Darum geht es doch, sich zu stärken und über jene zu erheben, die es nicht ertragen zu leiden. Ihnen die Schönheit des Schmerzes zu zeigen… und dabei zuzusehen, wie sie daran zugrunde gehen.“ Ein entzücktes Lächeln lag auf Aleksanders Zügen, während er vollkommen von seinen Worten überzeugt predigte. Leise fügte er hinzu: „Und du hast ganz im Sinn Loviatars gehandelt, du hast ihr wunderbar gedient.“
Ein kalter Schauer lief über Linds Rücken, während er Aleksander beobachtete und zuhörte. Würde so seine Zukunft aussehen, wenn er weiter in diesen unbarmherzigen Strudel rutschte? Aber wie sollte er sich noch dagegen wehren, hatte er doch im Prinzip schon alles akzeptiert, was der Priester ihm erzählte. Er hatte doch sogar fast wie er gehandelt, als er Yasmin gegenüberstand.
„Komm mit mir und ich werde dich lehren. Es gibt so viel, was ich dir beibringen könnte. Auch den Einsatz deiner Magie.“
„Magie…?“ Lind blickte ihn verständnislos an.
Dieser Blick entlockte Aleksander ein herzhaftes Lachen „Du weißt es noch gar nicht, oder? Deinem Blut wohnt Magie inne. Kannst du es nicht spüren? Die pulsierende Kraft, die nur darauf wartet an die Oberfläche zu gelangen?“
Er konnte es nicht spüren. Eigentlich konnte er schon, so wie man die Schwerkraft auf sich lasten fühlt, so allgegenwärtig, dass man es eigentlich nicht wahrnimmt.
„Du wirst schon noch verstehen, mein junger Freund. Komm mit mir und ich werde dir die Augen öffnen.“ Ihm wurde die Hand zum einschlagen hingestreckt, einladend, um den Pakt mit dem Teufel zu besiegeln. Er hatte sie umgebracht, er war ein Mörder, er war stärker als sie, sie war schwach, sie hatte sich umgebracht, er war Schuld. Seine Gedanken rasten im Kreis, der Strudel drehte sich immer weiter, zog ihn Sekunde für Sekunde tiefer hinab. Und er war schon bereit aufzugeben, streckte bereits die eigene Hand aus, als eine scharfe und doch ruhige Stimme brummig dazwischenfuhr.
„Bursche, würd mir das nochmal gut überlegen.“
Ein älterer Mann, mit stämmigen Oberarmen und buschigem grauem Bart, sowie schütterem Haupthaar, saß zwei Hocker weiter zu Linds Linken am Tresen. „Misch mich ja normal nicht bei andern Leuten ein, aber mit solchen Leuten, die dir den Kopf wirr quasseln, solltest nicht die Hand schütteln.“, brummelte der Alte vor sich hin.
„Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten, alter Mann.“, setzte Aleksander mit einem unterschwelligen Drohton entgegen.
„Der Bursche ist noch jung. Sollte seine eigenen Entscheidungen treffen können, bevor ihn so’n Fanatiker das Hirn verrenkt.“
„Das tut er, stimmt‘s mein Freund?“ Jetzt wirkte Aleksanders ausgestreckte Hand nicht mehr einladend, eher fordernd.
Ein schwaches Runzeln huschte über Linds Stirn, als er sich die ganze Situation durch den Kopf gehen ließ. Ihm wurde schlagartig bewusst, worauf er sich beinahe eingelassen hatte. Vielleicht konnte er dem unbarmherzigen Strom wirklich nicht entkommen, aber dann musste er ja nicht auch noch mit dem Strom schwimmen. Demonstrativ legte er seine Hand an den Bierkrug. „Ja, tu ich… Verschwinde…“
Das Lächeln auf Aleksanders Gesicht wurde kalt. „Wie du willst, mein ‚Freund‘. Verleugne dich selbst, du weißt bereits das Loviatars Lehren die Wahren sind.“
„Ladida…“, brummte der alte Mann belustigt vor sich hin. Es knackte leise, als Aleksander angespannt den Hals reckte und mit gezwungenem Lächeln Ruhe vorzutäuschen versuchte. Man sah ihm an, wie es ob dieser Respektlosigkeit gegenüber einem Priester in seinem Inneren kochte.
„Du wirst leiden, alter Mann. Ich werde mich an deinen Schmerzen laben.“
„Habs im Rücken… oh diese Schmerzen. Viel Spaß damit.“ Heiter lachend blickte der Alte den immer rasender werdenden Priester an. Aleksander hob die Hände und begann eine düstere Litanei, an Gebet an seine finstere Göttin und wob die von ihr gewährte Magie.
Sein Gebet war das einzige Geräusch in der Taverne. Sämtliche Gespräche, die sonst einen lautstarken Geräuschhintergrund bildeten, waren schlagartig verstummt. Und er selbst verstummte auch, als er das Klacken eines zurückgeschlagenen Sicherungsbolzens hörte.  Der Wirt hatte eine Armbrust unter dem Tresen hervorgeholt und auf ihn gerichtet. „Nich in meiner Kneipe, verschwinde oder ich verpass dir ein paar zusätzliche Löcher!“
Man konnte seine Zähne in der angespannten Stille fast bis in den letzten Winkel des Raumes hören. Gezwungenermaßen machte er sich auf den Weg nach draußen. „Das wird noch ein Nachspiel haben, alter Mann!“
Lind blickte dem Priester nach und ließ sich schwerfällig auf den Hocker neben dem Alten niedersinken. „Ich glaub ihr habt mich vor einem großen Fehler bewahrt.“
„Hat nichts mit dir zu tun, mag nur solche Kerle nicht… aber macht Spaß ihnen dazwischen zu pfuschen.“ Der alte Mann grinste ihn an und ließ dabei einen Goldzahn aufblitzen. „Bist jetzt wohl ganz schön durcheinander und weißt nicht, was du machen sollst, hm?“
„Warum reden eigentlich immer alle so, als wüssten sie, was in mir vorgeht?“
„Bist ein offenes Buch, zeigst zu viel von dir selbst, siehst aus wie jemand, der kurz davor ist sich selbst zu zerstören... Musst noch viel lernen, Bursche. Merk dir eins, sag nie was du weißt und was du denkst, zeig nie was du fühlst, verrat nie zu viel über dich selbst. Bietest damit nur Angriffsfläche und es gibt genug, die jede Schwachstelle schamlos ausnutzen.“, gesprochen wie ein erfahrener Mann, der gerade eine elementare Lebensweisheit mit ihm geteilt hat.
Der Wirt packte die Armbrust wieder unter den Tresen und ging weiter dem Tresenputzen nach, ohne sich um die beiden am Tresen Verbliebenen zu kümmern.
„Ziemlich verbitterte Einstellung…“
„Realistisch. Bist verbittert, nich ich.“ Lind verzog leicht das Gesicht, als er wieder so analysiert wurde. „Passt dir nich? Siehst, das mein ich… bist ein offenes Buch.“ Einige Kupfermünzen kullerten über den Tresen, als der alte Mann aufstand. „Falls nich weißt wo du hinsollst, komm mit. Brauch nen Gesellen.“
„Wie?“ Etwas überrumpelt von dem plötzlichen Angebot, brauchte Lind einen Moment, um das zu durchdenken. „Warum sollte ich euch trauen?“
Die Mundwinkel des Alten zuckten leicht nach oben. „Gute Frage, cleverer Bursche. Solltest nicht, solltest niemand trauen.“ Und damit ging er durch die Tür, ohne zu warten, ob Lind mitkommt, oder nicht.
Unschlüssig trommelte Lind auf dem Tresen rum, schob in Gedanke seine Möglichkeiten hin und her. Der Kerl konnte genauso ein Verrückter sein, wie Aleksander, dann würde er vom Regen in die Traufe geraten. Vielleicht wollte er ihn auch einfach nur ausrauben. Andererseits hatte er nichts mehr zu verlieren. Aber zu viel war passiert, als das er blindlings dem nächsten seltsamen Kerl in die Arme laufen würde. Als der Wirt sich gerade weggedreht hatte und einige Flaschen sortierte, griff Lind blitzschnell über den Tresen rüber und angelte sich die Armbrust. So schnell hatte er eine Taverne noch nie auf eigenen Beinen verlassen. Hektisch sah er sich um, ob ihn auch niemand bemerkt hatte, aber jeder schien sich hier nur um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Aus der Tür raus, klemmte er sich die Handarmbrust erstmal hinterm Rücken hinter den Gürtel, nicht sofort zu sehen, aber griffbereit, wenn er sie brauchte. Dann blickte er sich um, suchte den alten Kerl. Der stand seelenruhig an der Ecke, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und schaute sich das Treiben der Menge an. Er schien zu warten.
„Ich bin wirklich leicht zu durchschauen, hm?“
„Aye…“, grinste er ihn an. Schlendernd setzte er sich in Bewegung, Lind ging neben ihm. „Bin übrigens Bernard Cullum.“
„… Dorian.“
„Nur Dorian?“
Ein Nicken. Wie er Yasmin gesagt hatte, Lind war tot, endgültig.

Vier Jahre waren vergangen, seit Dorian beim alten Bernard in die Lehre gegangen war. Bernard war Feinschmied der etwas anderen Art, ein professioneller Geldfälscher. Und auch sonst handwerklich sehr begabt und vielseitig, Dorian konnte viel von ihm lernen. Der Grund, warum er sich ihn als Gesellen genommen hatte, war dass auch Fälscher und Betrüger einmal alt werden, zumindest wenn man sie nie erwischt. Die Gelenke wurden steif, alles tat weh und es ging ihm nichts mehr so einfach von der Hand, wie früher. Also hatte er sich Hilfe gesucht, um vor dem endgültigem Ruhestand noch einmal ein wenig Gold zu machen. Jedenfalls war dies der Grund, den er Lind erzählte. In Wirklichkeit hatte er in der Bar einfach gesehen, wie tief der Bursche fallen würde, wenn ihn niemand auffängt. Irgendwie hatte er Mitleid gehabt, er war auf seine alten Jahre halt weich geworden.
Durch Selbststudium fand Lind auch einiges über seine Magie heraus, die Aleksander damals erwähnt hatte. Der erschlichene Zugang zu den Stadtarchiven verschaffte außerdem Aufklärung über seine Familiengeschichte und den ominösen Familienfluch. So wie er es sich zusammenreimte, war die Magie der Fluch. Jeder in seiner Familie, der fähig war sie zu nutzen, ging irgendwie daran zu Grunde. Als wär das an sich noch nicht schlimm genug, musste er am eigenen Leib erfahren, dass seine Magie ein zweischneidiges Schwert war. Die meisten mit ähnlichen Fähigkeiten konnten ihre Magie durch ihre Gefühle beeinflussen und steuern. Er konnte das auch, nur kamen jegliche Emotionen dann umso stärker zurück. Grundloser Zorn ohne jegliche Richtung, Angst, Panik, Verwirrtheit und Desorientierung. Er lernte zwar mit der Zeit dies bis zu einem gewissen Grad zu unterdrücken, aber betrachtete seine Magie dennoch mehr als Feind, denn als Freund, und setzte sie eigentlich so wenig wie möglich ein. Und trotzdem wuchs seine Kraft im  Inneren langsam aber stetig immer weiter.
Irgendwann endete Dorians Lehrzeit dann auch, Bernard scheuchte ihn in die Welt hinaus, damit er eigene Erfahrungen sammeln konnte. Zumindest war er jetzt gut gerüstet, um sich gegenüber der kalten, rauen Welt behaupten zu können.
Es hatte ihn nach Tiefwasser verschlagen. Und irgendwie war er gemeinsam mit dieser wunderschönen, jungen Frau auf einem Zimmer gelandet. Malina, irgendwie ähnelte sie Yasmin. Sie wartete schon auf ihn, als er mit der Tasche voller Geld reinkam. Ihr gemeinsamer Plan war aufgegangen, sie hatten ordentlich abgeräumt.
„Gute Nachrichten, wir sind reich.“, grinste er zufrieden. Sie sprang vom Bett auf und fiel ihm jauchzend um den Hals, die Anspannung des stundenlangen Wartens fiel von ihr ab. Er konnte sie spüren, wie sie sich an ihn drückte, sie riechen, ihren Duft, es spülte diese Jahre alten Erinnerungen hoch, die er einfach nicht los wurde. Immer noch verfolgten sie ihn wie ein Fluch. Es machte ihn rasend, er hätte sie am liebsten gepackt, von sich gestoßen, eine reingeschlagen. Sie blickte ihm tief in die Augen, hinter denen es derart aufgewühlt war. Doch sie las darin nichts, sie sah nur sein Lächeln, dieses schwache immer gegenwärtige Lächeln, ohne das sie ihn gar nicht kannte, vertrauenserweckend, einlullend, das ihr sagte ‚Alles in Ordnung‘. Und sie glaubte es.
Langsam kam sie näher, die Lippen halb geöffnet, verlangend nach einem Kuss. Doch er entschlüpfte ihren Armen im letzten Moment. „Erstmal… wird gefeiert.“, meinte er scheinbar gut gelaunt. Eine Flasche Wein und zwei Gläser standen schon bereit. Mit Schmollmund ließ sie sich federnd auf dem Bett nieder und blickte seinen Rücken an, während er die Gläser füllte. Was sie nicht sah, war dass Pulver, das er unauffällig in ihrem Glas verschwinden ließ. Auch einige Lehrstunden in Alchemie gab es bei dem alten Bernard, darunter die Wirkung von verschiedenen Giften.
Dorian wandte sich um, die beiden Gläser in den Händen. Das Lächeln lag weiter auf seinem Gesicht, es war kein Problem für ihn, es aufrecht zu erhalten und nichts zu verraten. Es war über die Jahre zu seiner Maske geworden, seine zweite Haut. ‚Lass ein Lächeln dein Schild sein. ‘
Arglos nahm sie das von ihm gereichte Glas entgegen und trank in einem Zug. Ihr koketter Blick verriet, sie wollte diese „Formalität“ so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie stellte ihr Glas beiseite und trat wieder dicht an ihn ran, ließ ihre Hände über seinen Oberkörper gleiten und zog ihm langsam das Hemd aus, strich mit den Fingernägeln über seine Brust und glitt langsam tiefer.
Regungslos ließ Dorian das über sich ergehen und zählte im Geiste die Sekunden. 5… die Lider wurden ihr schwer - 4… ihre Bewegungen erschlafften - 3… die Augen fielen ihr zu - 2… die Kräfte verließen sie – 1… sie sackte in seinen Armen leblos zusammen. Alles lief perfekt nach Plan. Wenn auch nicht mehr nach ihrem gemeinsamen, sondern nur noch nach seinem. Während er in Gedanken schon das Geld verplante, wummerte es derart heftig gegen die Tür, dass sie fast aus den Angeln flog. „Dorian! Du Bastard, du bist tot!“
„Scheiße…“, murmelte er leise. Natürlich, es war alles zu perfekt, um perfekt zu sein. Sein Blick glitt von der Geldtasche neben der Tür, die unter den Schlägen zitterte und knirschte, zu Melina in seinen Armen, die tief und fest schlief, die nicht mal eine Explosion noch aufwecken würde, nach dem Schlafgift, das er ihr verabreicht hatte und dann zu dem Fenster, dass noch seinen einzigen Fluchtweg darstellte.
Leise fluchend rollte er Melina so behutsam es ging unter das Bett. Die Tür brach bersten unter der Wucht einer Halbork-Faust auf, als er gerade zur Geldtasche hechten wollte.
Dorian lächelte verzerrt. „Können wir nicht drüber reden?“ Der Armbrustbolzen, dem er nur knapp entkam, war als Antwort deutlich genug. Hinter dem Halbork trat ein Armbrustschütze hervor, gerade damit beschäftigt einen zweiten Bolzen aufzulegen. Ganz klar, der war nicht zum verhandeln hier. Dorian hatte nicht mal mehr die Zeit, sich sein Hemd zu schnappen, er hechtete zum Fenster und hinaus.
Allerdings war er im 2. Stock, mit Händen und Füßen ruderte er nach allem was seinen Sturz irgendwie abbremsen konnte. Eine Wäscheleine war das einzige, was er zu fassen bekam. Sie riss, und er schwang wie an einer Liane durch die Luft, bis er unsanft mit dem Rücken an eine Wand prallte, runterrutschte und sich großflächig die Haut abschürfte.
Zwar brannte sein Rücken höllisch, aber der Schütze, der oben aus dem Fenster blickte, trieb ihn voran. Während er sich aufrappelte und loshechtete, schnappte er sich noch ein viel zu großes Hemd, das mit der Wäscheleine runtergekommen war und warf es sich im Lauf über. Ein Bolzen schlug dicht hinter ihm in den Boden. Die rettende Mauerecke war so nah, wenn er erstmal um die rum war, war die Flucht so gut wie geglückt. Dann wäre er aus der Schussbahn, könnte irgendwo untertauchen, die Stadt verlassen und woanders sein Glück versuchen. Schlussspurt, er sprintete atemlos um die Ecke herum, direkt in eine wabernde Wand aus Magie. Er spürte die Energien pulsieren, durch ihn hindurchfließen – und dann war er hindurch. Seinen nächsten Schritt tat er in luftiger Höhe eines Turmplateaus. Ungebremst knallte er gegen die Balustrade der Aussichtsplattform und wäre fast durch die eigene Wucht drüber gestürzt.
„Was zur Hölle?!“ Ungläubig blickte er sich um und überblickte eine fremde Stadt. Hinter ihm die gleiche wabernde Energie, die ihn wohl hergebracht hatte, neben ihm ein Schild: „Willkommen Portalreisender, ihr seid in Seldaria…“
Aria Fhirnriveien